Bild von Thomas Hawk
Vor 10 Jahren ist Facebook aus dem sozialmedialen Fruchtwasser geschlüpft und hat die Art, wie wir kommunizieren—und uns an unsere Kommunikation erinnern—für immer verändert. Aber die kleine Revolution in unserer Timeline ist nur ein Lercherl-Like im Vergleich zu dem großen popkulturellen Paradigmenwechsel, den der 90 Jahre früher geschlüpfte William S. Burroughs eingeleitet hat.
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Heute würde William S. Burroughs seinen 100. Geburtstag feiern—ein Datum, das er (für viele, die ihn kannten überraschenderweise) nur um 17 Jahren nicht mehr erlebte. „El hombre invisible” („der unsichtbare Mann”), wie Burroughs während seiner Exilzeit in Mexiko von den Nachbarn genannt wurde, war einerseits so unauffällig und anständig, wie man als heroinsüchtiger, unterdrückt homosexueller Schreiber, der seine Frau beim Wilhelm-Tell-Spiel erschossen hatte, nur sein könnte: Selbst im Opiumzelt trug er immer Anzug und Hut und grüßte seine Dealer freundlich.
Künstlerisch entwickelte er (gemeinsam mit dem mittelmäßigen Maler Brian Gysin und dem Filmemacher Antony Balch) die intellektuell herausfordernde Cut-up-Methode, bei der Texte ohne jede bewusste Einflussnahme des Schreibers geremixt und gescramblet werden und so neue, ungeahnte Assoziationswelten entstehen lassen.
Andererseits war er aber auch der Schriftsteller, der von Naked Lunch bis Nova Express das Bild von erhenkten Hitlerjungen, die in ihren letzten Lebenszügen noch stramm abspritzten, im Literaturkanon verankerte; und der irre, alte Perversling, der zwischen St. Louis, Missouri und Tangier, Marokko auf die Suche nach Vergebung, Erfüllung, Schwänzen und Drogen ging und bis zu seinem Ende Wilhelm Reichs Orgon-Akkumulator für seine anhaltende Gesundheit im Alter verantwortlich machte.
Bild von Niklas Pivic
Aber mir geht es hier nicht nur um ein paar offensichtliche Widersprüche und unasphaltierte Stellen in der langen autobiografischen Autobahn des Burroughs’schen Lebenstrips. Wer sich zu einem VICE-Artikel über Burroughs durchgeklickt hat, weiß mit ziemlicher Sicherheit bereits um diese Eckdaten Bescheid (oder kann das Kulturwerkzeug Internet zumindest gut genug bedienen, um es bis zum entsprechenden Wikipedia-Artikel zu schaffen).
Meiner Meinung nach ist seine wichtigste Errungenschaft die Erkenntnis, dass die menschliche Sprache mit der Natur des Virus zusammenhängt—und wie man seine Worte selbst zu Viren machen und als Mindfuck in die Gedankenwelten seiner Lesen schleusen konnte. So, wie Burroughs persönlich ein unauffällig getarnter Agent war, hinter dessen Fassade der miasmische Gestank des menschlichen Abgrunds lauerte, so ist auch seine Literatur ein einziger Trojaner, der in unserem Sprachzentrum al-Qaida spielt.
Natürlich habe auch ich Burroughs—wie jeder kiffende Nerd in jeder Generation seit den Beats—zuerst als Trip-Lektüre entdeckt und seine Bücher auf dem Zeltplatz von Gaasperplas und in den Coffeeshops von Amsterdam mit mir herumgeschleppt, um zwischen den Worten, die beim Lesen zerfallen wie Hasch-Cookies, die große Weisheit zu finden.
Ein paar Jahre später habe ich ihn auf der Uni wiederentdeckt und beschlossen, sein Werk zum Spezialgebiet meiner Magisterprüfung zu machen. Ich nannte mein Thema: „Das Cut-up als Waffe”. Heute, zum 100. Geburtstag des größten Mindfuckers, den die Welt des geschriebenen Wortes (abseits vielleicht von Dada) gesehen hat, habe ich mir die wichtigsten Punkte daraus noch mal vorgenommen und versuche euch, in ein paar Gründen zusammenzufassen, warum man Burroughs auch 2014 noch entdecken und lesen sollte.
Er war der erste echte Pop-Literat
Burroughs’ aktive Zeit umspannt volle ACHT Jahrzehnte; seine ersten Geschichten schrieb er mit acht (dasselbe Alter, in dem er übrigens auch das erste Mal eine Waffe abfeuerte) und seine letzten Worte kurz vor seinem Tod Ende der 90er Jahre.
Wer ihn zwischen den 50er und 90er Jahren nicht als Literat kannte, weil er oder sie die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in einem Atombunker verbracht hat, hatte gute Chancen, nach Erblicken des Tageslichts anderswo über Burroughs zu stolpern—bei TV-Auftritten, in Musikvideos, als Stimme in Songs oder bei Pop-Lesungen.
Dafür musste man noch nicht mal wissen, dass der Typ schon davor Bücher geschrieben hatte; allein seine Stimme, die klang wie ein Kaugummi aus Schmirgelpapier, reichte als Attraktion aus, um die Massen anzuziehen. Noch bevor in Berlin und London ein paar postmoderne Clubbesucher begonnen haben, ihr Schreibtalent als Star-Qualität zu inszenieren, war Burroughs schon der heiß umkämpfte Scheiß am literarischen Pop-Markt und stellte selbst Hunter S. Thompson in den Schatten.
Burroughs’ berühmtes Thanksgiving-Gedicht, inszeniert von Gus van Sant:
Burroughs speist mit Andy Warhol und redet über Chicken Fried Steak:
Burroughs’ gute Tipps für junge Menschen:
Sein Auftritt als Schütze im Video zu „Just one Fix” von Ministry:
Eine Burroughs’sche Kunstaktion, bei der er mit Waffen auf T-Shirts schießt:
Sein Einfluss auf die Pop-Welt kann gar nicht überschätzt werden
Wenn man die Popkultur zwischen den 60er Jahren und heute ein bisschen genauer unter die Lupe nimmt, ist Burroughs so gut wie überall. Als öffentliche Figur des unsicht- und unscheinbaren Mannes, der alles sagen kann, weil man ihm nichts davon zutraut, hat er zahllose Hommagen, Persiflagen und Nachahmer inspiriert.
Auch als literarische und intellektuelle Figur, die weniger Geschichten und Romane schrieb, sondern vielmehr Pointen, Dialoge und griffige Wortfetzen für die Weiterverwertung lieferte, war und ist er die Ikone aller Künstler, die sich seither mit Cut-ups, Mash-ups, Remixes oder einfach nur seltsamen, subversiven Ideen auf Bild- und Wortebene beschäftigt haben. Hier ein paar ausgewählte Referenzen.
David Bowie schrieb seine Lyrics zu „Life on Mars” nach dem Cut-up-Prinzip (falls der Song bisher für euch keinen Sinn ergeben hat, wisst ihr jetzt, wieso):
Radioheads „Kid-A„” (sowohl der Song, als auch das gesamte Alum) folgen ebenfalls der Cut-up-Methode:
Klaxons-Song „Atlantis to Interzone” ist bereits im Titel eine ziemlich explizite Anspielung auf Burroughs’ fiktive marokkanische Grenzstadt zwischen der echten und der Drogenwelt:
Chris Morris schuf 2003 ein auch ideell nahe am Ursprungsgedanken von Burroughs angesiedeltes Cut-up zur State of the Union-Rede von Präsident George W. Bush:
Die Cut-up-Filme sind purer Mindfuck
Über das Cut-up habe ich zwar schon viel geredet und auch einige referenzielle Zitate vorgestellt. Was aber noch fehlt sind die drei ursprünglichen Cut-up-Filme von William S. Burroughs und Antony Balch, die das Phänomen begründet und auch gleich seine schänsten Beispiele hervorgebracht haben (streng genommen zählt William Buys a Parrot zwar als vierter Cut-up-Film, aber erstens merkt man das weder inhaltlich noch formell und zweitens geht es darin nur darum, dass Burroughs einen verdammten Papagei kauft).
Bill and Tony:
Towers open Fire:
The Cut-ups:
So gut wie alles, was uns heute umgibt, ist Cut-up

Bild von Rosa Menkman
Heute hat das Cut-up nicht nur sämtliche Diszipline erobert und neue Kunstformen hervorgebracht (von Mash-ups bis Glitch Art)—es ist auch zu so etwas wie dem immaterialen Logo unserer Generation geworden, die sich durch ein ständiges gigantisches Cut-up aus Impulsen und Eindrücken bewegt.
Unsere hochkomplexe Umwelt ist von „Natur” aus nicht geradlinig, stringent, logisch oder einfach gestrickt. Sie ist eher wild, chaotisch, disruptiv—ein einziges Störsignal, das beständig unsere Synapsen cockblockt. Nur unser Gehirn versucht daraus so etwas wie eine lineare Erzählung mit Anfang und Ende zu erschaffen; und je besessener man sich damit beschäftigt, umso näher steht man bei weltumspannenden, alles erklärenden Verschwörungstheorien.
Bild von Hugh Manon
Schon Burroughs selbst meinte (vor dem Aufkommen des Internets), die Cut-up-Methode würde unsere Wahrnehmung der Welt weitaus besser und authentischer abbilden, als lineare Erzählungen das jemals könnten. Auch unsere Nutzung von sozialen Medien bildet das ab.
Spannend ist dabei auch, dass die sozialen Medien selbst immer versuchen, dem Chaos entgegenzusteuern. Facebooks Timeline ist—genau wie kausal konstruiertes Hollywood-Kino—Ausdruck der Bestrebung, uns selbst (mit all unserem kaputten Kopfdurcheinander) in der Kunst unsichtbar zu machen. Im Cut-up bekommt das abgefuckte Chaos unseres Gehirns den Spiegel vorgehalten.
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